Die zwei Wölfe

2. Mai 2022by Irmhild

Ben ist Student der Architektur im 4. Semester. Im Prinzip macht ihm das Studium viel Spaß und er liebte es, in fremde Städte zu fahren und sich Plätze und Gebäude anzusehen um dann einzuschätzen, aus welcher Zeit diese Gebäude stammten und die feinen Unterschiede kennen zu lernen.

Er hatte schon eine Menge gelernt, hatte aber ständig den Blick auf den Dingen, die ihm immer noch fehlten. Wenn er eine Klausur zurück bekam, sah er kaum, dass er eine 2,2 bekommen hatte, er nahm vor allem wahr, dass es „nur“ eine 2,2 war und forschte sehr genau nach, was ihm fehlte, dass er keine bessere Note bekommen hatte.

Grundsätzlich ist das ein erfolgreicher Ansatz: aus Fehlern lernen. Wir laufen aber Gefahr dabei, zu übersehen, dass der größte Teil richtig beantwortet wurde, sonst wäre es eine viel schlechtere Note gewesen, um am Beispiel von Ben zu bleiben. Das stellt die Schwächen sehr in den Fokus. und hier sind wir beim Perspektivwechsel. Natürlich kann ich dauerhaft meinen Fokus auf den Mangel richten. Dann führt das allerdings dazu, dass ich von mir selbst einen Eindruck bekomme: „ich genüge nicht“. Das ist keine gute Ausgangsbasis für ein starkes Selbstwertgefühl. Stattdessen ist es besser zu schauen: an welchen Stellen bin ich schon richtig gut? Anschließend kann ich immer noch schauen, wo noch etwas gefehlt hat. In diesem Fall ist der Kritiker kleiner als der Selbstentwickler. Den Selbstentwickler brauchen wir, um uns selbst gut kennen zu lernen, genau zu wissen, wo unsere Stärken sind und realistisch eine Einschätzung unserer eigenen Person/ unseres Könnens vorzunehmen. Ein stabiles Selbstwertgefühl hilft uns durch eine Krise. Wir wissen dann, dass wir im Grunde genommen völlig o.k. sind, es aber diese Mal z.B. mit der Klausur noch nicht so gut geklappt hat. Ich gehe dann an die Wiederholungsklausur viel gelassener ran.

 

Dazu gibt es eine Geschichte:

Eines Abends saß ein alter Indianer mit seinem Sohn am Lagerfeuer.
Es war dunkel geworden.
Die Bäume um sie herum warfen schaurige Schatten und das Feuer knackte und knisterte, während die Flammen in den Himmel züngelten.

Der Indianer schaute nachdenklich in die Flammen.

„Das Flammenlicht und die Dunkelheit, sind wie die zwei Wölfe,
die in unseren Herzen wohnen.“

Fragend schaute ihn sein Sohn an.
Nach einer Zeit des Schweigens begann der Indianer seinem Sohn
eine Geschichte zu erzählen.

„Der eine, – der Schwarze Wolf ist böse.
Er arbeitet mit Angst, Ärger, Sorgen, Schuld, Lügen, Unterdrückung, Vorurteile, Eifersucht, Neid, Gier, Überheblichkeit, Arroganz, Feindschaft und Hass.
Er ist rachsüchtig, aggressiv und grausam.

Der andere, – der Weiße Wolf ist gut.
Er nutzt Zuneigung, Vertrauen, Aufrichtigkeit, Offenheit, Liebe, Wohlwollen, Güte, Verständnis, Mitgefühl, Freundschaft, Frieden, Rücksicht, Gelassenheit, Hoffnung, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Wahrheit und Freude.
Dieser Wolf ist liebevoll, sanft und mitfühlend.

In jedem von uns lebt ein Weißer und ein Schwarzer Wolf.
Zwischen beiden Wölfen findet ein immer währender Kampf statt.“

Der Enkel schaute nachdenklich in die Flammen des lodernden Feuers.
Er dachte über die Worte seines Vaters nach.
Nach einer Weile frage er:
„Sag Vater, welcher der Wölfe gewinnt den Kampf?“

Der Indianer sah ihn eindringlich an und antwortete:
„Es gewinnt der Wolf, den du am häufigsten fütterst!“

 

Den kritischen Wolf können wir auch ab und zu füttern, alles andere würden zu einer selbstverherrlichenden Einschätzung unserer eigenen Person führen, aber der schwarze Wolf sollte auf jeden Fall deutlich weniger Futter bekommen.

Im Fall von Ben heiß das, dass Ben lernen sollte, dem weißen Wolf auf jeden Fall mehr Beachtung zu geben, mehr auf das zu achten, was er schon gut konnte. Daran haben wir in wenigen Coachings gearbeitet und als Ben das nächste Mal eine Bewertung/ ein Ergebnis zurück bekam, konnte er viel gelassener damit umgehen. Das ließ mehr Energie übrig für neue Lernthemen.