Der Fehlerzoom – oder leben wir denn nicht mehr in der Steinzeit?

1. Januar 2022by Irmhild

Lea ist Auszubildende als Kauffrau für Büromanagement. Es ist ihre zweite Ausbildung, direkt nach er Schule hatte sie die Ausbildung zur Erzieherin abgeschlossen aber aus gesundheitlichen Gründen kann sie nicht mehr in diesem Beruf arbeiten.

Jetzt steht sie 6 Monate vor der Abschlussprüfung und hat das große P in den Augen, wenn sie an die Prüfung denkt. Sie sieht nur noch negative Punkte im Zusammenhang mit der Ausbildung, so dass sie ihr Mut verlassen hat, dass sie die Prüfung schaffen kann. Gleichzeitig steht sie ziemlich unter Druck, weil sie ja nicht mehr in ihrem alten Beruf arbeiten kann und sie gerne in der Firma bleiben würde, in der sie jetzt die Ausbildung macht.

Da kommt einiges zusammen.

Die Lernstrategien, die sie in den ersten zwei Jahren der Ausbildung genutzt hat, reichen ihr nicht mehr aus, sie hat das Gefühl, sie kann sich nichts mehr merken.
Wenn sie an die mündliche Abschlussprüfung denkt, wird ihr ganz schlecht, sie kennt die Erfahrung, bei einer mündlichen Prüfung durchzufallen schon. In der Erzieher Ausbildung hatte sie die mündliche Abschlussprüfung wiederholt und hatte erst beim zweiten Mal bestanden. Auch gibt es ein Prüfungsfach, dass ihr Bauchschmerzen bereitet, weil sie sich nur schlecht motivieren kann, überhaupt etwas dafür zu tun. Sie sieht einfach keinen Sinn darin, dieses Thema ausführlich zu behandeln außer für die Prüfung. Beim Vorgespräch ist sie sehr aufgebracht und hektisch malt sich alles in den dunkelsten Tönen aus.

Es ist Dezember und Lea möchte erst im neuen Jahr einen Termin machen. Weil ich das Gefühl habe, dass sie sich bis dahin nur noch mehr in ihren Stress hineinsteigert, schlage ich ihr vor, dass wir uns für ein Vorgespräch verabreden, weil ich ihr vorher erklären möchte, wie Lerncoaching funktioniert. Sie willigt ein und ich bitte sie, bis dahin 3 Dinge zu überlegen, die in der Ausbildung gut laufen.

Am Anfang steht immer die Beobachtung.

Erstaunt schaut sie mich an und sagt: „Drei Dinge, die gut laufen, oder die schlecht laufen?“ Da sie den Blick für das, was nicht gut läuft ja bereits gut eingestellt hat, wiederhole ich, dass sie auf 3 Dinge achten soll, die gut laufen. Evolutionär bedingt sind wir sehr darauf fokussiert, schnell zu erkennen, welche Fehler wir machen damit wir diese Fehler beseitigen können und somit unser Überleben sichern. In der heutigen Zeit ist diese Fähigkeit aber nur noch bedingt notwendig. Wer heute überwiegend auf seine Fehler achtet, gerät schnell in eine negativ Spirale und traut sich nichts mehr zu. Mir geht es also darum, dass Jaqueline die Perspektive wechselt. Die Ausrichtung auf das Positive war bisher zu kurz gekommen.

Eine Woche später treffen wir uns für das Vorgespräch. Bevor ich meine erste Frage stellen kann, sprudelt es aus ihr hervor:
„Ich habe die ganze Zeit überlegt, was im Zusammenhang mit der Ausbildung gut läuft, das ist mir sehr schwer gefallen aber im Prinzip sind es diese drei Sachen:
– meine Arbeit macht mir wirklich Spaß
– meine Mutter sagt, ich stehe jetzt viel mehr für mich ein, seit ich diese Ausbildung mache
– ich hätte nie gedacht, dass mir der Lernstoff doch relativ leicht fällt.“

Ressourcen erkennen ist sehr wichtig

Ich freue mich, dass bereits in der Vorbereitung auf das Vorgespräch schon soviel passiert ist und möchte es ihr über die Skalierungsfrage deutlich machen.
Meine Frage: „Wie sehr glaubst du heute, dass du diese Ausbildung schaffen kannst?“ Beantwortet sie auf der Skala von 1-10 mit 8-9.
Meine Frage: „Wie sehr hast du bei der Terminanfrage daran geglaubt?“ Beantwortet sie mit: 2-3.
Das belegt einmal mehr, wie wichtig es ist, eine zielorientierte Perspektive einzunehmen.

Ich erzähle ihr noch, an welchen konkreten Themen wir dann später im Lerncoaching zusammenarbeiten werden und gebe ihr noch einen Buchtipp:
„Glauben Sie nicht alles, was Sie denken“ heißt der Titel von Valerija Sipos und Ulrich Schweiger und trifft es ziemlich auf den Punkt im Fall von Lea. Ihr Gehirn hat gelernt mit negativen Erwartungen zu rechnen und darf jetzt im Zusammenhang mit der Prüfung auf andere Pfade gebracht werden. Denn es ist wichtig, davon überzeugt zu sein, die Prüfung schaffen zu können. Dann ist die Motivation da, zu lernen, der Lernstoff wird aufgenommen und die Prüfung wird mehr als Bühne betrachtet, auf der ich als Azubi präsentieren kann, was ich weiß.